Das Beste zum Schluss

Interview mit Harald Werr zu seinem 20-jährigen Dienstjubiläum

 

Mit Beginn des Jahres 2017 kann Dipl.-Inf. Harald Werr auf eine 20-jährige Tätigkeit in der Arbeitsgruppe zurückblicken. Zusammen mit anderen Teamkollegen der »ersten Stunde« war Harald Werr maßgeblich an dem Aufbau des damaligen Themenfelds »Entscheidungsunterstützungssysteme« (heute: »Gruppe Optimierung«) beteiligt, das sich unter anderem mit der Planung und Optimierung von Logistiknetzwerken beschäftigt. Als inzwischen dienstältester Mitarbeiter der Fraunhofer-Arbeitsgruppe SCS hat Harald Werr viele Logistiktrends kommen und gehen sehen und beantwortete uns dazu gerne ein paar Fragen:

Fraunhofer IIS/Sarah Müller
Harald Werr 2015

Erinnern Sie sich an Ihr allererstes Logistikprojekt? Um was ging es da?

Das war ein Forschungsprojekt zusammen mit der Universität Augsburg, wobei wir ein Teilthema bearbeiteten, das sich um die Gestaltung effizienter Nahverkehrs-Tourgebiete auf der Basis von Postleitzahlen drehte.

Was hat Ihre Arbeit damals am meisten geprägt?

Vom Arbeitsumfeld her betrachtet hatte ich das Glück, auf ein zwar noch recht kleines, aber hochmotiviertes, interdisziplinäres Team zu stoßen, das trotz seiner geringen Größe bald Projekte mit bedeutenden Kunden, sowohl aus der Industrie wie auch aus dem Logistik-Dienstleistungsgewerbe, durchführen durfte. Das ist auch heute noch so, wobei sich inzwischen aber die Zahl an kompetenten Mitarbeitern hinter unserer Forschung und unseren Leistungen doch sehr erhöht hat. Die größte Herausforderung zu Beginn war ohne Zweifel der effiziente Umgang mit Ressourcen wie Rechenzeit und Arbeitsspeicher. Da wir jedoch naturgemäß seit jeher meist sehr große Datenmengen verarbeiten müssen, und die kommerziell verfügbaren Solver für mathematisch exakte Verfahren wie die gemischt-ganzzahlige Programmierung damals noch nicht sehr leistungsfähig waren, haben wir einen Großteil unserer Lösungsverfahren als Heuristiken formuliert, die wegen ihrer Effizienz teilweise auch heute noch im Einsatz sind. Heute wird unsere tägliche Arbeit durch immer leistungsfähigere Rechnersysteme – Stichpunkt Massendatenverarbeitung – wesentlich erleichtert. Auch die Lösungsalgorithmen für exakt-mathematische Verfahren werden immer schneller und können daher vermehrt zur Bearbeitung von Problemen herangezogen werden, für die bisher Näherungsverfahren das Mittel der Wahl waren.

Wie haben sich die Logistik und die Forschungslandschaft dazu in den 20 Jahren verändert?

Nun, damals war die Logistikbranche ja noch nicht sehr innovativ, der Umgang mit Daten und EDV war eher selten. Insbesondere die Dienstleisterseite orientierte sich stark an den aktuellen Bedürfnissen ihrer Kunden; sie besaß ohnehin keine eigenen Forschungsabteilungen und hatte, durch den Kostendruck bedingt, meist kein Interesse an Investitionen in zukunftsweisende, aber gleichzeitig kostspielige und vielleicht unausgereifte Lösungen. Daher waren unsere Auftraggeber oft schon froh, wenn sie durch unsere technischen Möglichkeiten und die von uns entwickelten Planungstools bei der Lösung sehr abgegrenzter Teilprobleme, wie der Einführung eines Lagerstandorts oder der geeigneten Dienstleisterauswahl, Unterstützung erhielten. Auch wenn sich die Bedingungen beispielsweise bezüglich der unternehmensweiten Softwaresysteme, der Datenerhebung und -verarbeitung in den Unternehmen heute sehr zum Positiven geändert haben, haben wir in praxisbezogenen Projekten immer noch mit Themen wie Datenqualität und -aktualität zu kämpfen. Es geht also mehr denn je um eine intelligente Datenverarbeitung, bei der mithilfe von teilkorrekten Daten und Annahmen, die auf Erfahrungswerten beruhen, gute Ergebnisse erzielt werden.

Natürlich ergeben sich heute, im Zeitalter von »Industrie 4.0« und »Digitalisierung« ganz neue Chancen, supply-chain übergreifende Lösungen zu entwickeln und diese Datenströme automatisiert für Mehrwertdienste, zur Selbststeuerung und für Optimierungen auszuwerten. Es ist aber noch viel dazu zu erforschen, welche von diesen Daten wie und für welche planerischen Zwecke auszuwerten und zu interpretieren sind. Wir sind durch diverse Forschungsoffensiven hier auch an vorderster Front dabei.

Neben diesen technologischen Aspekten hat sich die Logistik natürlich, wie viele Wirtschaftszweige sonst auch, in Richtung Globalisierung und Konzentration verändert. Das merken wir z. B. an den erweiterten geographischen Einzugsbereichen der Logistiknetze mit beachtlichen Güterströmen aus Fernost und der erhöhten Anzahl beteiligter Akteure. Die Praxispartner verlangen immer stärker nach ganzheitlichen Lösungen, die auch angesichts einer unsicheren Zukunftsentwicklung mit sich ständig wandelnden Märkten für Stabilität und gleichzeitig Flexibilität sorgen. Leider gibt es für komplexere Fragestellungen, die über mehrere Logistikstufen oder Akteure gehen, immer noch keinen theoretisch fundierten, methodischen Ansatz, auch wenn die Anbieter mancher Planungssysteme oder Beratungsleistung dies glauben machen wollen. Hier können wir immer noch durch unsere breite Palette an Methodik- und Erfahrungswissen punkten und kombinieren es mit dem Fachwissen unserer Praxispartner vor Ort, die ihre eigene Branche natürlich meist besser kennen.

Welche der damals verfolgten Forschungsansätze sind heute Realität und wie geht es weiter?

Auf dem Gebiet der Transportlogistik gab es schon damals viele zukunftsweisende Ideen, von denen einige heute längst Alltag geworden sind, wie z. B. die Hub-and-Spoke-Netze im Stückgut- und Teilladungsbereich. Einige Konzepte, die wir bereits wissenschaftlich untersucht haben, warten jedoch immer noch auf ihre Realisierung. Wir dürfen aber nicht nur in den Wolken zukünftiger möglicher Entwicklungen schweben, sondern müssen auch für die derzeitigen Probleme der Logistikwirtschaft Lösungen anbieten. Daher hatten wir schon damals die Vision von einem modularen »Werkzeugkasten«, mit dem man die verschiedenen Problemfelder der strategischen und taktischen Netzplanung sowohl für Verlader als auch für Dienstleister abbilden könnte. Und wir haben es im Laufe der Jahre trotz des fordernden Tagesgeschäfts tatsächlich geschafft, für viele dieser Teilbereiche Methoden und Tools zu entwickeln.

Durch den rasanten technologischen Wandel sind heute neben neuen Chancen aber auch Herausforderungen entstanden, die vor 20 Jahren nicht vorhersehbar waren. Die immer noch anhaltende Vereinzelung und zunehmende Kleinstückigkeit der Transporte durch den E-Commerce und die damit verbundene Beanspruchung der KEP-Dienstleister haben z. B. die Verkehrssituation in den Innenstädten sehr kurzfristig verändert. Und zum Glück für uns Forscher ist ein Ende nicht in Sicht, denn unterschiedlichste Entwicklungen werden auch in Zukunft die Logistikbranche beeinflussen, z. B. vor der Marktreife stehende Entwicklungen, wie das fahrerlose Auto oder die flächendeckende Versorgung elektrisch angetriebener Fahrzeuge und auch demographische Trends wie die zunehmende Urbanisierung, die Entvölkerung der Flächen und Alterung der Bevölkerung werden die Logistikbranche meiner Meinung nach beeinflussen und fordern neue Denkansätze.

Welches Projekt würden Sie als Ihr erfolgreichstes ansehen?

Ob und inwieweit ein Projekt erfolgreich war, lässt sich ja immer nur rückblickend beurteilen. Teilweise können wir die strategischen Entscheidungen unserer Praxispartner und Kunden oft nur ein Stück weit begleiten und unterstützen, daher lässt sich oft nur schlecht nachverfolgen, geschweige denn beeinflussen, wie unsere Handlungsempfehlungen umgesetzt werden und welche Auswirkungen das auf die jeweiligen Unternehmen hat. Manchmal bekommen wir die Ergebnisse unserer gemeinsamen Bemühungen jedoch auch ganz konkret vor Augen geführt, wenn z. B. unsere Partner neue Logistikstandorte eröffnen, wie zuletzt 2014/2015 bei einem Buchgroßhändler in Erfurt geschehen.

 

»Das größte Kunststück bei unserer Arbeit besteht meiner Meinung nach darin, herauszufinden, welche Aufgaben man lieber dem Menschen überlassen sollte, wo also Kreativität, Intuition und problemlösendes Denken gefragt sind, und welche routinemäßigen oder mathematisch exakt formulierbaren Aufgaben man ruhig einem Rechnergehirn überlassen kann und auch sollte. Erst durch die richtige Kombination von beiden Stärken kommt man zu befriedigenden Lösungen.«

 

Wenn Sie anlässlich Ihres Dienstjubiläums einen Wunsch frei hätten, was würden Sie sich wünschen?

Persönlich wünsche ich mir, dass ich noch lange gesund bleibe und diese Arbeit weiterführen kann. Für mein Team wünsche ich mir, dass unsere derzeitige, konstruktive, und auf unseren interdisziplinären Stärken beruhende, erfolgreiche Zusammenarbeit so weitergeht. Es bleibt ja hinsichtlich des rasanten technischen Fortschritts ohnehin spannend!