OBER – Optimale Bestandsplanung unter Unsicherheit

Mit KI Kosten senken und Verfügbarkeit sichern – Effiziente Bestandsplanung im Großhandel

© bannafarsai - stock.adobe.com

Die optimale Steuerung von Lagerbeständen ist aufgrund komplexer Einflussfaktoren eine zentrale Herausforderung der gesamten Supply-Chain, von der auch der mittelständische Großhandel betroffen ist. Die Entscheidung, welche Menge eines Artikels zu welchem Zeitpunkt eingekauft werden soll, hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab: Einkaufskonditionen und verfügbare Lagerkapazitäten müssen hier ebenso berücksichtigt werden, wie die prognostizierte Nachfrage und gewünschte Warenverfügbarkeit. Die zuverlässige und genaue Prognose der Nachfrage ist dabei noch eine Herausforderung für sich.

Um eine Lösung für dieses Problem zu entwickeln, hat die Fraunhofer-Arbeitsgruppe für Supply Chain Services des Fraunhofer IIS im Rahmen des Forschungsprojekts OBER mit dem Großhändler Eisen-Fischer aus Nördlingen zusammengearbeitet. Wie bei vielen mittelständischen Großhändlern stellt die Beschaffungsplanung bei Eisen-Fischer einen enorm großen manuellen Aufwand dar. Obwohl das genutzte ERP-System eine simple Prognose des zukünftigen Bedarfes pro Artikel ausgab, war diese nicht genau und verlässlich genug. Zudem fiel es auch erfahrenem Fachpersonal schwer, die Schwankungen in den Bedarfen richtig einzuschätzen und alle Einflussfaktoren wie Einkaufskonditionen, angestrebte Kapitalbindung und Lagerkapazität einzubeziehen. Die Folge waren zu hohe Sicherheitsbestände und damit eine hohe Kapitalbindung oder ein Wertverlust des Lagers.

Die angestrebten Ziele im Projekt OBER waren, die manuellen Zeitaufwände bei der Bestandsplanung durch Automatisierung zu senken, die zukünftige Nachfrage genauer zu prognostizieren und die Kosten zu senken, ohne die Warenverfügbarkeit zu reduzieren. Dafür hat die Arbeitsgruppe SCS ein Verfahren entwickelt, das eine KI-Prognosen mit einem mathematischen Optimierungsmodell verbindet.



Prognoseunsicherheiten kennen, Lagerbestände optimal steuern

Eisen-Fischer ist u. A. Großhändler für Waren aus dem Bereich Sanitär Heizung-Klima (SHK). Auf diesen Sparten lag der Fokus im Projekt OBER. Die betrachteten Artikel sind dabei höchst unterschiedlich. Badewannen und Schrauben unterscheiden sich in der Logistik, der Preisgestaltung und natürlich auch in den Absatzkurven. Bei einer fünfstelligen Artikelanzahl muss die entwickelte Prognoselösung also über alle Artikel hinweg präzise sein und gleichzeitig wenig manuelle Anpassung erfordern. Die benötigte Parametrisierung soll automatisiert erfolgen. Die Arbeitsgruppe SCS hat deshalb eine Pipeline zur Datenaufbereitung für die Prognose implementiert sowie eine Trainings-und-Evaluierungs-Pipeline, mithilfe derer sowohl statistische als auch Machine-Learning-Modelle und neuronale Netze auf den Absatzdaten trainiert und evaluiert werden können.

Ein wichtiges Ergebnis dieser Evaluierung war, dass fast alle der getesteten Modelle die bisher genutzte Prognose aus dem ERP-System schlagen konnten (der absolute Prognosefehler konnte um ca. ein Drittel reduziert werden). Außerdem konnte gezeigt werden, dass nicht ein einzelnes Modell die beste Prognose für alle betrachteten Artikel ausgibt. Vielmehr muss für jeden Artikel bzw. für jeden Absatzkurven-Typ ein passendes Modell verwendet werden.

Für eine optimale Bestandsplanung ist die Prognose der zukünftigen Nachfrage eines Artikels von entscheidender Bedeutung. Schließlich soll die Nachfrage erfüllt werden, ohne dass der Lagerbestand zu sehr steigt. Diese Prognose ist allerdings immer mit einer gewissen Unsicherheit verbunden (engl. forecast uncertainty). In der Praxis kann nicht davon ausgegangen werden, dass ein ausgegebener einzelner Prognosewert (eine sog. Punktprognose) genau zutrifft. Häufig wird ein zusätzlicher Sicherheitsbestand eingeplant, um Nachfragen, die über dem Prognosewert liegen, bedienen zu können. Die richtige Bestimmung dieses Sicherheitsbestands sollte dabei auf einer datengetriebenen Einschätzung der Prognoseunsicherheit und damit des Out-of-Stock-Risikos beruhen, was in der Praxis selten der Fall ist. Auch um ein angestrebtes Servicelevel zu erreichen, ist eine korrekte Abschätzung der Prognoseunsicherheit unerlässlich. Im Forschungsprojekt wurden daher verschiedene KI-Ansätze erforscht, die nicht nur ein, sondern hundert Szenarien für die zukünftige Nachfrage ausgeben. Anstatt nun z. B. einen Mittelwert all dieser möglichen Szenarien auszugeben und diesen als gegeben anzunehmen, kann die Streuung all dieser Szenarien als Prognoseunsicherheit interpretiert werden. Je nach Strategie kann sich nun gegen alle möglichen Zukunftsszenarien abgesichert oder ein bestimmtes Servicelevel erreicht werden, in dem z. B. 90 % aller Szenarien bedient werden sollen.

Maßgeschneiderte Bestelloptimierung

Schematische Darstellung des entwickelten Verfahrens: Prognose und Optimierug verarbeiten die vorliegenden Daten zu einer optimalen Bestellentscheidung

Die beschriebenen Prognosen fließen in das von der Arbeitsgruppe SCS entwickelte Optimierungsmodell ein. Dieses bestimmt die optimalen Bestellmengen und -zeitpunkte für alle Artikel auf Basis der vorhandenen Daten. Mathematisch optimal ist die Bestellstrategie dann, wenn die vordefiniert Zielsetzung bestmöglich erfüllt wird. Im Rahmen des Projekts OBER lag der Schwerpunkt darauf, die Einkaufspreise auf ein Minimum zu senken und dabei gleichzeitig ein festgelegtes Servicelevel zu gewährleisten. Um dieses Ziel vollumfänglich abzudecken, müssen eine Vielzahl an Faktoren und Daten berücksichtigt werden, die mit Hilfe der Fachexperten des Anwendungspartners identifiziert wurden. Neben den Prognosen spielen für die Deckung der Nachfrage unter anderem ausstehende Bestellungen, Lagerbestände, Wiederbeschaffungszeiten sowie Sicherheitsbestände eine entscheidende Rolle. Die genauen Losgrößen werden im Wesentlichen durch die Einkaufsbedingungen, Lagerkapazitäten und die Kapitalbindungskosten bestimmt. 

Durch die Erweiterung des Modells zu einem stochastischen Optimierungsmodell können auch Unsicherheiten in der Bedarfsprognose, also unterschiedliche Szenarien der zukünftigen Artikel Nachfrage, berücksichtigt werden. Dadurch ist der ermittelte Bestellvorschlag nicht nur auf einen Einzelfall ausgerichtet, sondern zielt darauf ab, im Mittel über alle möglichen Realisierungen eine gute Entscheidung zu treffen und ist so gegenüber Unsicherheiten abgesichert. Das entwickelte Modell generiert automatisiert innerhalb weniger Sekunden einen Bestellvorschlag für die Disponent*innen, der die messbaren Praxisanforderungen optimal erfüllt. Das kann eine erhebliche Unterstützung für den Arbeitsalltag der Disponent*innen sein. In einer theoretischen Evaluation der entwickelten Bestellstrategie im Vergleich zur Bestellung nach Bedarf konnten 20 % – 30 % mehr Nachfragen bedient werden. Zeitgleich konnten die Einkaufskosten um bis zu 3 % gesenkt werden.  

Vom Forschungsprojekt zur Anwendung

Für eine weitere Verwertung der Ergebnisse ist die Einbettung des Verfahrens in eine einfach nutzbare Software von entscheidender Bedeutung. Deshalb wird die im Rahmen des Forschungsprojekts entwickelte Lösung als Dashboard visualisiert und beim Praxispartner Eisen Fischer getestet. Die entwickelte KI-Methodik zur optimierten Bestandsplanung kann auf unterschiedliche Anwendungskontexte (z.B. Apotheken, siehe Projekt KIBA) übertragen und maßgeschneidert an die Praxisanforderungen angepasst werden.

Projektpartner

  • Trevisto AG, Nürnberg
  • Eisen-Fischer GmbH, Nördlingen
  • FIS Informationssysteme und Consulting GmbH (FIS), Grafenrheinfeld

Das könnte Sie auch interessieren

 

Dynamische Lagerplanung bei Schnellecke

Um die Herausforderungen für einen reibungslosen Warenumschlag zu meistern, erarbeitete die Arbeitsgruppe für Supply Chain Services SCS gemeinsam mit der Firma Schnellecke Logistics eine dynamischen Lagerplanung.

 

Studie

Der Großhandel in Bayern – Marktstruktur und Digitalisierung

Der bayrische Großhandel kann als »hidden champion« bezeichnet werden: in der Öffentlichkeit wenig bekannt, meist mittelständisch und dennoch wirtschaftlich gesehen ein Riese – keine andere Branche hat einen höheren Umsatz als der Großhandel. Die Arbeitsgruppe SCS untersuchte die Marktstrukturen des Großhandels in Bayern und analysierte, wie sich die Digitalisierung auf die Wertschöpfung im Großhandel auswirkt – und welchen Handlungsbedarf es gibt.